Sariks Erwachen

In seinem Traum treibt Sarik ziellos in der Leere, bis er vor sich den Umriss eines mächtigen Berges auftauchen sieht. Langsam fliegt er um ihn herum und spürt die dumpfe Kraft in seinem Inneren, die langsam pulsiert wie ein großes, schläfriges Herz.

Vorsichtig schiebt er sich durch den Fels, bis er in der Dunkelheit eines blutroten Schattens gewahr wird. Er erhascht einen Blick auf schimmernde Schuppen, ahnt die riesigen Muskeln, den Schwefelatem und die Kreatur, zu der all dies gehört, und die so tief und fest schläft, dass die Vernichtung ganzer Welten sie nicht aufgestört hätte. Da ist nur der Zug riesiger Ketten und die Last des Felsen über dem Titanenkörper, und einen Moment empfindet Sarik fast so etwas wie Mitleid mit der stolzen Kreatur.

Borchiak der Große, erinnert er sich seines alten Feinds. Er war einst einer von uns.

Vor ihm wacht eine Statue, die einen Avatar der Wesenheiten darstellt, so lebensecht, als würde sie jeden Moment von ihrem Sockel steigen. Sie hält ein großes Schwert in Händen, und ihre Augen sind mandelförmig und wie aus flüssigem Gold.

Ihre Augen, denkt Sarik unvermittelt. Um uns an unsere Tat zu erinnern. 

Entsetzen packt ihn bei ihrem Anblick, und er flüchtet.

Die Szene ändert sich. Die Leere erstarrt zu Marmor, und Sarik merkt, dass er über den Boden einer weiten Halle wandert, in der mit dem Klang seiner Stiefel noch die Echos vergangener Jahrhunderte nachhallen. Er kennt die hohen Fenster und die Gärten davor, die endlosen Säulengänge, die Decken, so hoch wie das Himmelszelt, die Mauern, die kein Meißel je berührt hat. Es ist der Gestalt gewordene Traum der Mächtigen: der Hof von Iljudis, am Rande des Sommerlands.

Trauer befällt Sarik, denn er weiß, dass es diesen Ort nicht mehr gibt.

Allein in der leeren Halle steht eine Frau mit rotem Haar und aristokratischen Zügen vor einem Spiegel. Trotz ihrer gebieterischen Haltung liegt Traurigkeit auch in ihren Augen. Sarik folgt ihrem Blick und sieht die Halle hinter ihnen im Spiegel von Kerzenschein erhellt und voller Leben. Die fantastischsten Besucher aus allen Winkeln der Welt haben sich versammelt und berauschen sich an ihrer Macht und aneinander; dann bläst ein Wind durch die Vorhänge, die Kerzen erlöschen, und mit ihnen die arabeske Szene. Zurück bleibt nur ein leerer Ballsaal, und der Kummer und die Anklage in den Augen der Frau, die ihn nun bei der Hand nimmt.

„Es ist an der Zeit“, sagt sie, und wie zuvor kehrt ein Bruchstück seiner Erinnerung zurück, und Sarik weiß, dass diese Frau ihm gefährlicher werden kann als Borchiak das je vermocht hätte, denn er hat ihr einst einen Eid geleistet, und sein Wort bindet ihn. „Du musst erwachen.“

„Korianthe“, sagte er, und wie er ihren Namen spricht, brechen für einen Moment die Bilder über ihn herein: der Orden von Geador, seine alten Gefährten, Hallen voller Spiegel und furchtbarer Entscheidungen; der Blick in den Augen seines Freundes Zearis, als er ihn das letzte Mal sieht. Der Anblick dieser Bilder ist mehr, als er ertragen kann, entsetzlicher noch als die Statue in Borchiaks Berg, und Sarik wird davongerissen und in die Tiefen seines Traums geschleudert. 

Lange Zeit lässt er sich treiben und denkt keinen Gedanken. Dann nimmt eine Strömung ihn auf, und spült ihn schließlich an den Ort, an dem alle Wege wie in einem Mahlstrom enden. 

Er hätte diesen Ort jederzeit wiedererkannt, gleich, wie lückenhaft seine Erinnerung auch sein mag, auch wenn er ihn nie in Fleisch und Blut betreten hat. Jeder der Mächtigen kennt ihn und hat schon von ihm geträumt, und jeden von ihnen hat es danach gelüstet, ihn zu beherrschen: Navylyn, die Hallen des Schicksals, die Kammern aus Porzellan, in denen die Figur eines jeden lebenden Wesens existiert – und die Wesenheiten damit spielen. 

Sie liegen zwischen dieser Welt und den höheren Sphären, ein Haus für die Götter, wenn sie zu Besuch weilen. Hier wurden die Geschicke von Königen und Kindern, von Bettlern und Priestern entschieden. Heute aber liegen sie aufgegeben, verlassen, inmitten eines öden, bleichen Lands unter einem sternenübersäten Himmel. Die mächtigen Tore sind geschlossen, und die Einsamkeit des Orts ist bedrückend.  

Wenn er noch einen Beweis gebraucht hat, wie alt die Welt während seines Schlafs geworden ist, dann hat die Stille jenes verschlossenen Orts ihn erbracht. Sarik weiß, nur eine Wesenheit vermag diese Pforten zu öffnen, und es ist sehr lange keine Wesenheit mehr hier gewesen.

 *

Sarik erwachte.

Das Gefühl des Alters aus seinem Traum wirkte noch nach, und es kam ihm vor, als habe er sehr lange Zeit geschlafen. Eine Weile versuchte er zu glauben, dass er sich täuschte; die Zeit verging anders im Blauen Wald, langsamer und manchmal auf Umwegen. Doch anders als früher hatte das Spiel der unsichtbaren Gezeiten, die ihn und seine Bewohner umarmten, keine beruhigende Wirkung auf Sarik, sondern erschien ihm beklemmend, so real wie Gefängnismauern.

Er suchte die Werkhallen unter seiner Hütte auf, wo er Flugmaschinen und andere Wunder ersonnen hatte, und erschrak beim Anblick all des Staubs, der sich auf den Tüchern und Gerüsten gesammelt hatte. Ein leichter Wind schuf Abhilfe; der Eindruck verlorener Zeit aber ließ sich nicht verwehen. Einen langen Moment betrachtete er sich in einem alten Messingspiegel. Der Spiegel war stumpf geworden, und das Gesicht, das ihm entgegenblickte, nur ein verschwommenes Oval.

Er wandte sich ab und setzte sich an seinen Schreibtisch, sichtete seine  Aufzeichnungen und versuchte sich an der Lösung eines Theorems, das ihn schon lange beschäftigte; doch er konnte sich nicht konzentrieren, und das Pergament war so brüchig, das es unter seinen Fingern fast zu Staub zerfiel.

War es immer so gewesen, oder war es ihm nur nicht aufgefallen?

Als er wieder nach oben kam, hatte das Zwielicht um seine Hütte eine unstete, lindgrüne Färbung angenommen. Eine Weile kümmerte er sich um die Beete hinter der Hütte,  die vertrocknet und voller Unkraut waren. Zwei neugierige Fernferkinder machten sich einen Spaß daraus, seine Harke zu verstecken; zu anderer Gelegenheit hätte er sich vielleicht auf ein Spiel mit ihnen eingelassen, doch in diesen Stunden erschienen ihm ihre koboldhaften Gesichtchen tückisch und fremd. Ihm war, als sei ein Bann von ihm gefallen, der ihm all die Jahre die Sicht getrübt hatte, so wie den Spiegel in seinem Keller.

Das Irrlicht kam herbeigeflogen. Es spürte, dass es ihm nicht gut ging, und folgte ihm besorgt nach drinnen.

Wie lange bin ich schon im Blauen Wald?, fragte er, auch wenn es wahrscheinlich eine schlechte Frage war, um sie einem Irrlicht zu stellen.

Irrlichter konnten sehr alt werden, doch wie die meisten magischen Wesen hatten sie dies nicht zuletzt dadurch erreicht, dass sie bestimmte Dinge nicht hinterfragten; die Zeit war eines davon. Dieses Irrlicht war schon vor langer Zeit zu ihm gekommen; fast schien es Sarik, als sei es immer schon da gewesen, und das einzige, das war, wie es sein sollte.

Ich habe dich gefunden, antwortete es.

„Und war ich je wirklich weg?“, fragte Sarik laut, um seine eigene Stimme zu hören. Das Irrlicht ging ein paar Schritt auf Abstand und nahm einen verwirrten Pinkstich an.

„Es gab da ein Dorf, zu dem ich immer ging. Ich dachte, ich hätte ihm Regen gebracht. Du warst eifersüchtig auf einen Vogel.“ Er schüttelte den Kopf. „Doch jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob es nicht auch nur ein Traum war. Wann habe ich den Wald zuletzt verlassen? Hat es dieses Dorf überhaupt je gegeben?“

Ich habe es gesehen, erwidert das Irrlicht vorsichtig. Mit deinen Augen.

„Aber war ich auch dort?“, fragte Sarik.

Du bist, wo du bist.

Langsam ließ er sich an seinem Küchentisch nieder, von wo aus er so häufig das Treiben des Walds verfolgt hatte. Eine Weile rang er mit sich selbst, dachte an die Bilder aus seinem Traum, der Vergangenheit: sein alter Feind, seine alte Herrin, das Zentrum der Macht, das sie alle niemals erreicht hatten. Es konnte kein Zufall sein, dass sie nach so langer Zeit zu ihm zurückgekehrt waren und aus dem Gleichklang seiner Tage rissen.

„Es ist an der Zeit“, murmelte er. „Ich werde den Blauen Wald zu verlassen.“

Das Irrlicht nahm einen überraschten Fliederton an, und vor dem Fenster fuhr Wind durch die Bäume.

Bist du nicht glücklich?

„Ich war es“, sagte Sarik, „solange ich schlief. Doch etwas oder jemand hat mich geweckt, und nun sehe ich so viele Erinnerungen vor mir, dass ich kaum weiß, was davon echt ist, und was nur eine Illusion. Etwas ist mit mir oder der Welt geschehen, und ich muss gehen und jemand finden, der sich vielleicht besser an alles erinnert als ich. Es tut mir leid.“

Er fuhr noch einmal mit der Hand über die Korona aus kaltem Licht, dann ging er, seine Sachen zu richten. Es war nicht viel, was er mitnahm; es passte in einen kleinen Beutel.

Als er zur Tür ging, war das Irrlicht noch da.

Ich will nicht, dass du gehst.

Sarik lächelte.

„Ich wünschte, ich könnte bleiben“, sagte er, „aber die Ungeduld lässt mich nicht los. Was immer mich erwartet, ich will es herausfinden – und wie ein alter Freund einmal sagte, der Beginn einer Reise ist immer am schönsten.“

Dann komme ich mit.

„Weißt du, worum du da bittest?“, fragte Sarik verblüfft. „Die Welt da draußen war früher schon kein Ort für Irrlichter.“

Doch das Irrlicht glomm entschlossen und hoffnungsvoll, und Sarik sah, dass es ihm ernst war.

„Also schön“, sagte er, und insgeheim dankbar. Dann nahm er seinen Dreispitz und trat nach draußen.

Es war ein wenig dunkler geworden, und still, als habe der Wald sich von ihm abgewandt.

Er schloss die Tür hinter sich, und mit einem letzten Blick auf seine Hütte und die Lichtung wandte er sich ab. Er wusste, der Blaue Wald würde nie wirklich fern sein; er konnte sein Reich von jedem anderen Wald der Welt aus betreten, und auf demselben Weg wieder verlassen. Dennoch fiel ihm der Abschied schwer.

Das Irrlicht hatte ebenso wenig wie Sarik damit gerechnet, dass dieser Moment kommen würde, doch ein Augenblick war wie jeder für es.

Einsam, strahlend, weiß, folgte es Sarik.