April geht in den Zirkus
Eine Weile saß April im Schankraum und beobachtete die anderen Gäste. Viele sprachen einen fremden Dialekt, und einige machten einen sehr wohlhabenden Eindruck. Ein aufs andere Mal ging ihr Blick zur offenen Tür und zur Straße. Es dämmerte. April dachte an ihren Vater und spürte, wie ihre Finger sich um die paar Pennys schlossen, die sie in der Tasche trug. Sie wusste, sie sollte einfach hier warten. Doch hatte es ihr je geholfen, zu tun, was man von ihr erwartete?
Es war ein verstörender Gedanke.
Sie stand auf und trat aus dem Gasthof hinaus auf die Straße.
Etwas verloren stand sie am Straßenrand und beäugte die Menschen, Einheimische wie Reisende, die sich lachend und fluchend an ihr vorbeischoben. Sie sah junge Frauen mit Körben und Eimern und alte Bettler, die unablässig vor sich hinmurmelten; reich gewandete Herrschaften aus dem Westen, aus Melnor, Glaive und dem Herzen des Strahlenden Reichs, und ärmliche Tagelöhner und in Lumpen gehüllte Familien, vielleicht aus dem Norden, wo das Leben unsicher und hart sein sollte. Sie hatten Esel und Pferde und manchmal sogar Träger dabei, und obwohl April das Gedränge und die Gerüche nach Unrat, Pferdedung und Essen zuwider waren, tat sie erst einen Schritt, dann noch einen, und ließ sich dann treiben.
Die Häuser hatten zwei oder mehr Stockwerke und drängten sich eng aneinander. In den Gassen aber hingen Laternen, die nun nach und nach entzündet wurden. Es war aufregend, wie das Leben einfach weiterging, selbst mit Einbruch der Dunkelheit.
Rascher, als April erwartet hätte, erreichte sie den Rand der Ortschaft. Auch hier waren noch Leute unterwegs, und bald stellte sie fest, dass dies mit einer Reihe hell erleuchteter Zelten zusammenhing, die auf einer kleinen Wiese im Kreis standen. Wilde Musik und der Geruch nach Met und gebratenen Äpfeln schlugen ihr entgegen.
Da vergaß sie alle Bedenken – sie wollte es sehen.
Der dicke Mann mit dem großen Hut am Eingang lächelte, als sie ihm die Hand mit den Pennys hinstreckte. Einen Moment schaute er sie prüfend an, wie sie da stand, struppig und schmutzig, die alten Schuhe knöcheltief im Schlamm. Dann nahm er einen Penny, schloss ihre Finger um die restlichen und schickte sie hinein.
Wagen und Zelte verwandelten die Wiese in eine verrücktes, kleines Dorf, das von den seltsamsten Wesen bevölkert wurde, gestaltgewordene Träume im Fackelschein.
Ein Stelzengänger mit weiten Beinkleidern stakste durch den Schlamm. Ein kleiner Mann, der ihr gerade zur Hüfte ging, verführte die Besucher zum Hütchenspiel. Zwei leichtbekleidete Tänzerinnen schlugen Räder auf einer Bühne und warfen einander durch die Luft. Ein paar Zelte weiter stand ein ungeheurer Kerl, so breit wie hoch. Seine Brust war behaart wie die eines Bären, er bog Eisenstangen mit seinen Pranken, und April fragte sich, ob er nicht vielleicht wirklich ein Bär war, der sich bloß in einen Mann verwandelt hatte.
Sie war glücklich wie seit Jahren nicht. Dies war die Welt, von der sie immer geträumt hatte, und je länger sie sich in ihr verlor, desto ferner schien ihr die, aus der sie stammte. Eine Weile folgte sie ein paar Musikern von Zelt zu Zelt. Sie gab ihre letzten Pennys für ein paar gebrannte Nüsse und ein süßes Getränk aus und fand, dass sie noch nie etwas so Gutes gegessen hatte.
Dann sah sie auf einmal einen Mann vor sich stehen. Sie wusste auf den ersten Blick, dass er kein Mensch war, aber sie hatte keinen Namen für das, was er war. Er war weiß und dürr wie ein Birkenzweig und jonglierte mit blitzenden Messern, deren tödliche Schönheit Ausrufe des Staunens und Schreckens unter den Zuschauern hervorrief, und mit einer seltsamen Mischung aus Argwohn und Faszination trat April näher.
Sein Haar war weiß, fast silbrig, und schimmerte wie Weidenkätzchen. Sein Gesicht war kreideweiß geschminkt, seine Nase schmal wie eins seiner Messer, doch seine Augen so groß und grün und wach, als sie ihren begegneten, dass sie wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Im selben Moment erstarrte auch der Mann, und die Messer fielen herab, eins nach dem anderen. Mit einer unscheinbaren Geste, so beiläufig, als knöpfe er sich sein Wams zu, pflückte der Mann sie aus der Luft und ließ sie in Scheiden an seinem Gürtel verschwinden. Keine Sekunde löste er dabei den Blick von ihr, und als April einen zaghaften Schritt zur Seite tat, machte auch er einen Schritt, und als sie den Mund öffnete, etwas zu sagen, setzte auch er an, ein Wort zu bilden, das er noch nicht kannte, und so ahmte er jede ihre Gesten nach wie ein perfektes, geisterhaftes Spiegelbild.
April lachte und ließ sich auf das Spiel ein, und die Zuschauer verfolgten amüsiert, wie sie den Geschminkten dazu zwang, diese oder jene unverhoffte Bewegung auszuführen. „Frag ihn was“, sagte da eine Stimme neben ihr, und April bemerkte den kleinen Hütchenspieler, der sie ans Bein stupste.
Also fragte April den weißen Mann, woher er kam, und was er erlebt hatte, und da erzählte er eine Geschichte, ohne dabei ein einziges Wort zu sprechen. Er erzählte mit seinen Händen und seinem Gesicht, seine Finger formten lebendige Bilder, seine Augen schienen jede Regung imitieren zu können, die Menschen je gefühlt hatten. Auf eigentümliche Weise fühlte sich April an ihre Begegnung mit dem Zauberer im Schnee erinnert. Dieser Mann hier war nicht wie er – aber auch in ihm schimmerte eine alte Kraft, wie April sie noch bei keinem Mensch gespürt hatte.
So erfuhr April, wie der stumme Mann vor vielen Jahren übers Meer gekommen war; sie erfuhr, dass er einst seine Liebste verlor und fast verzweifelte; und wie er nach langen Jahren des Umherirrens auf den Jahrmarkt stieß und eine neue Heimat fand. Mit jeder neuen Wendung der Geschichte entstanden Bilder in ihrem Geist, die sie von hier weglocken wollten wie eine ferne Musik. Sie lauschte auf die Melodie dieser stillen Musik und sah, dass sie auch das restliche Publikum in ihren Bann schlug, bis sie schließlich auf einer bittersüßen Note endete, die noch lange in ihnen nachklang.
Der weiße Mann verbeugte sich, und mit einem letzten Blick in Aprils Augen wandte er sich ab und verschwand in einem Zelt. Seine Zuhörer schüttelten sich benommen und schnappten nach Luft. Ein paar ältere Frauen schauten ihm fast wehmütig nach, zwei reich gekleidete Männer aber schoben sich entrüstet an April vorbei.
„Kein Wunder, dass der Kaiser sie jagen lässt“, murmelte der eine. „So weit ist es gekommen.“
„Verfluchte Eolyn“, sagte der andere und spuckte aus. „Wir könnten ihn melden – oder wir verlangen unser Geld zurück. Vom Verhextwerden war keine Rede.“
Der andere grunzte und winkte ab. „Die Tänzerinnen waren gut“, gab er zu bedenken.
April aber fand, dass in der stummen Darbietung des Eolyn, wenn dies denn sein Name war, mehr Schönheit lag als in dem Tanz der Mädchen, und mehr Kraft als in den Muskeln des Bärenmanns. Sie bewunderte seine Anmut und sein kaltes Geschick.
Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie der Hütchenspieler dem Rücken der beiden Männer den Finger zeigte, und da musste sie grinsen.
[…] Im heutigen Ausschnitt (der ebenfalls vom Anfang des Romans stammt) ist April zehn Jahre älter; doch auch dieser Tag hält ein Schlüsselerlebnis für sie bereit. Kurz darauf ist dann nichts mehr so, wie es vorher war: Zur Leseprobe […]
Das ist ja zauberhaft, so schön! Zum Weinen schön…
Hach, ich freue mich ja schon so auf dein Buch! 🙂