Die südliche See

Die Silhouette Leiengards schält sich aus der Dunkelheit wie ein Traum. Die Festung ist auf einer Vulkaninsel gebaut, und der Hafen und die kleine Stadt, die sich darunter an den Felsen klammert, drohen jeden Moment abzubrechen und in der Brandung zu versinken. Die Insel ist weder Teil des Imperiums, noch zahlt sie Tribut. Sie hat keine Wälder, keine Äcker, bloß einen sauren Wein, der an vom Seewind verkrüppelten Stöcken an den schwarzen Steilhängen wächst. Das einzige, was Leiengard sonst hat, ist Fleisch — Eisen und Fleisch.

Die Insel ist die Heimat der ältesten und geachtetsten Kriegerschule der Welt. Sie ist eine Saga, die seit undenklicher Zeit schon erzählt wird, an Lagerfeuern, in Feldlagern, hinter vorgehaltener Hand: eine Saga von Heldenruhm und übermenschlichen Taten, von Männern, die allein ganze Armeen in die Flucht schlagen, von Drachentötern und Riesenschlächtern, Tyrannenmord und Hochverrat und bezwungenen Meistern, die gedemütigt in ihrem Blut liegen. Und immer ist es ein Karsai, ein Träger des Löwengürtels, der als einziger lebend das Schlachtfeld verlässt, egal, ob Sieger oder Besiegte die Geschichte erzählt; und nichts mehrt den Ruhm der Insel und den Schrecken, den sie verbreitet, glaubhafter als das. Niemand hat es je gewagt, sie anzugreifen.

Jeder darf den Hafen Leiengards anlaufen und um Aufnahme ersuchen. Die Schule lehnt niemand ab, gleich welcher Herkunft und welchen Stands. Die einzige Bedingung ist die bedingungslose Unterwerfung des Bittstellers: Wer sich Leiengard verschreibt, verschreibt sich mit all seinem Sein und Besitz. So ist es immer schon gewesen, und niemand weiß heute mehr, wie viele Krieger Leiengard in seiner Geschichte hervorgebracht hat. Wie viele davon auf der Insel leben und sie schützen ist ebenso wenig bekannt wie die Zahl derer, die den Gürtel insgeheim in Ehren halten. Und wenn es einen oder mehrere Herrscher der Insel gibt, denen man diese Fragen hätte stellen können, so hat niemand sie je zu Gesicht bekommen und davon berichtet.

Manch einer aber mutmaßt, dass das Netz der Ehemaligen längst die Struktur aller bedeutenden Reiche durchdringt. Wenn die Insel ruft, müssen die Karsai gehorchen — blind, wenn nötig, und ihre Waffe gegen den eigenen Freund erheben. Und wenn die Insel den Befehl dazu gäbe, würden sie losstürmen, eine geheime Armee, eine Flut unbezwingbarer Krieger, Mörder und Helden, der sich kein Reich der mittleren Welt widersetzen kann.

Manche fragen sich, wieso Leiengard noch nicht das Signal für diesen letzten Sturm gegeben hat. Andere glauben, dass der Tag nicht mehr fern ist, und man dann endlich die wahren Ziele der Schule erfahren wird. Bis dahin aber ist nur sicher, dass wer immer die Insel angreift, einen Krieg nicht nur im südlichen Meer, sondern seiner eigenen Heimat riskiert — jeder Schlag gegen die unbekannten Herren der Insel ist Selbstmord.

Die Senatorentochter steht am Bug der kleinen Galeere, die sie vor sechs Tagen bestiegen hat, und sieht dem schwarzen Eiland entgegen. Der Seewind ist kühl, doch der Sonnenglanz der Wellen sticht ihr in den Augen und ihr Haar ist salzverkrustet. Mehr noch als Sonne und Salz aber sticht das Starren des Kapitäns, das ihr schon so vertraut ist wie ein alter Dorn in der Ferse. Ihre Knochen schmerzen vom Schlafen auf Deck. Nachts rauben ihr das Schnarchen und der Gestank der Besatzung den Schlaf, und tagsüber dringt der endlose Takt des Rudermeisters ihr durch Mark und Bein, bis selbst ihr Herz sich daran anzupassen scheint und sie die Schläge kaum noch wahrnimmt.

Sie hätte ein größeres oder komfortableres Schiff nehmen können, oder eins mit einer angenehmeren Mannschaft. Die Sklavenhändler aber waren die ersten, die bereit waren, sie mitzunehmen, und wenn sie noch länger gewartet hätte, hätte Marcia sie vielleicht aufgespürt. Oder schlimmer noch, sie wäre von allein umgekehrt, und zurück zu Iason gegangen.

Sklavenhandel ist außerhalb des Strahlenden Reichs nicht sehr verbreitet, und sie findet das einleuchtend, denn die meisten Sklaven stammen ja vom Festland, vor allem aus Azarien und den südlichen Ländern. Für die Bewohner Leiengards ist der Handel mit menschlicher Ware aber ein lukratives Nebengeschäft, und es gibt immer Bedarf an kräftigen Trägern und Kämpfern in der einzigen Stadt der Insel.

Sie sieht die windschiefen Bauten näher herangleiten und richtet sich auf.

Lange hat sie sich auf diesen Moment vorbereitet, hat mit Reisenden und Seefahrern geredet. Sie weiß, wer hier lebt, muss ein gewisses Maß an Verwegenheit und Willensstärke mitbringen. Manch einer hat hier die Ausbildung zum Krieger gesucht und ist gescheitert, oder ein unglücklicher Hieb hat ihn bis an sein Lebensende verkrüppelt. Andere sind Händler oder geflohene Sträflinge. Die Schule duldet die rauen Sitten in der Stadt an ihren Klippen, solange sie ihrer Aufgabe nachkommt: Leiengard mit Nahrung, Werkzeug und Waffen zu versorgen. Wer sich nicht bewährt, landet in der ärmlichen Arena, die nach allem, was sie gehört hat, die einzige Zerstreuung bietet.

Die Senatorentochter hat lange überlegt, wie sie an einem solchen Ort bestehen kann, so kurz sie ihn auch betreten muss, und hat sich für die naheliegendste Variante entschieden: Sie hat sich einen Sklaven gekauft. Nichts unterstreicht ihren Stand als pherenidische Patrizierin besser.

Der Mann ist Azare. Er ist gut erzogen und befolgt ihre Anweisungen ohne Zögern, und er muss nicht mit den anderen Sklaven rudern und auf den Bänken schlafen, sondern darf sich tagsüber in ihrer Nähe und unter dem Sonnensegel aufhalten und nachts bei ihr und den Freien auf dem Achterdeck schlafen. Dennoch ist es ein gefährliches Spiel, auf das sie sich einlässt. Was ihn hält, sind in erster Linie die Rollen, die man ihnen zugedacht hat; das, seine Armreife und die Peitschen der Aufseher. Mit ihm allein gelassen sollte sie ihr Glück besser nicht zu lang auf die Probe stellen. Das Schwert, das sie ihm zu tragen gestattet, ist ihr Schutz und ihre größte Bedrohung zugleich.

Im Hafen liegen Handelsschiffe mit mehreren Masten neben alten imperialen Galeeren, die nun unter der Flagge Leiengards fahren. Sie sieht Lastkräne und muskelbepackte Barbaren, die sich in die Winden stemmen. Statt Karren verstopfen Sänften den Hafen, denn Tiere sind in Leiengard rar und dienen dem Verzehr – Sklaven dagegen gibt es im Überfluss. Sie entdeckt ein paar Fealva und auch die Katzenwesen aus dem Westen, die sie das erste Mal im Hafen Ptaraons gesehen hat, und die sich Timei nennen. Die Lagandæer sind also auch hier.

Sie zahlt dem Kapitän den zweiten Teil der für die Passage vereinbarten Summe, und sobald das Schiff vertäut liegt und eine Planke ausgelegt wird, geht sie von Bord.