Frühjahrszeit wird Martinzeit

by Tausenddorn

Am Wochenende startet in den Staaten die dritte Staffel von Game of Thrones. Auch ich freue mich schon sehr darauf, wie die Geschichte weitergeht (und werde wohl wieder ziemlich lang Seiten wie io9 nur noch mit größter Vorsicht besuchen können). Erst war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt was dazu sagen soll (man muss als Fantasy-Autor ja schon ziemlich bescheuert sein, sich selbst solche Messlatten zu legen), aber ich habe im Winter auch was zu Tolkien gesagt, deshalb sage ich jetzt auch noch was zu Martin.

Zunächst muss ich, man ahnt es schon, gestehen, dass ich die Bücher gar nicht gelesen habe. Dabei ist es schon über zehn Jahre her, dass mir ein guter Freund aus Creative Writing den ersten Band ans Herz legte. Irgendwie wurde ich aber nicht warm damit. Vielleicht war es auch einfach der falsche Zeitpunkt. Jedenfalls setzte bald darauf der ganze „Hype“ ein, andere Freunde waren schon unglücklich über Band 4, und meine Motivation, es doch noch zu versuchen, sank dementsprechend. Spätestens, als bekannt wurde, dass HBO sich der Reihe annimmt, beschloss ich dann, mir die Geschichte lieber als „gekürzte Ausgabe der spannenden Teile“ anzusehen. Und die Serie macht mir sehr großen Spaß. Alles, was ich sage, muss man also durch die Brille von jemandem sehen, der von der Serie und den Gesprächen mit Dritten auf die Bücher zurückschließt.

Was mich an Martins Geschichte also beeindruckt, sind gar nicht mal die Dinge, die meistens genannt werden. Die personale Erzählsituation hat er nicht erfunden, er hat sie vielleicht aber besonders stur durchgezogen. Ein Freund (belesener als ich) hat in seinem Blog etwas Interessantes zu den Problemen gesagt, die dadurch entstehen können:

Möglicherweise ist dieses enge erzählerische Korsett, das sich Martin da verpasst hat, mit schuld daran, dass die Serie ab Band 3 ausufert und in zahllose Nebenplots zerfasert. Mit dieser formalen Struktur, so reizvoll sie auch ist, kann er keine Ereignisse schildern, bei denen kein Perspektivträger zugegen ist – oder er muss zu sperrigen Tricks greifen, etwa indem er eine Nebenfigur von dem Ereignis berichten lässt. Aber weil Martins Welt groß und komplex ist, passiert zwangsläufig ständig etwas ohne einen Perspektivträger, weshalb er immerzu neue erfinden muss, um teilnehmende Beobachter zu haben. Die brauchen dann aber wieder ihre eigene Geschichte, weshalb überall Subplots aus dem Boden schießen …

Ich weiß nicht, ob das der Hauptgrund dafür ist, dass seine Geschichte so auszuufern scheint, aber mir ist etwas Ähnliches im Kleinen durchaus mit den „Magiern“ passiert — der Zwang, einen Charakter „vor Ort“ haben zu müssen, führt tatsächlich zu einem „Mehr“ an Szenen, die man sonst nicht gebraucht hätte.

Was die Figurenentwicklung betrifft, so finde ich es zumindest in der Fernsehserie recht offensichtlich, wer am Ende noch dabei sein wird, und wer nicht. Auch Neds Tod sah ich ab einem bestimmten Zeitpunkt kommen. Ich glaube gern, dass sich das in den Büchern anders verhielt. Andererseits empfände ich es auch gar nicht mal so als Gewinn, wenn Figuren tatsächlich willkürlich sterben würden. Das berührt nun eher grundsätzliche Fragen der Dramaturgie, und inwieweit man sich als Autor bestimmten Erwartungshaltungen verweigert.

Solche Brüche sind interessant, wenn man sie das erste Mal vollzieht. Verwehrt man seinen Lesern aber wirklich konsequent einen klaren Handlungsbogen, zu dem auch das Wechselspiel von Schuld und Sühne und Katharsis gehört (wenn sich Jon Snow also zum Beispiel im nächsten Buch beim Wandern zufällig das Bein bräche und an Wundbrand stirbt), schlagen sie es einem irgendwann um die Ohren. Besonders in einem Fantasyroman, weil sich Fantasy nie ganz von der Sphäre des Archetypischen und Mythischen wird freimachen können. L. Sprague de Camp sagte einmal, Fantasywelten seinen Welten, wie sie sein sollten, um gute Geschichten abzugeben. Dasselbe gilt auch umgekehrt: Fantasy erzählt Geschichten, wie sie sein sollten, um gute Welten abzugeben. (Wenn sich an Jons Tod durch Wundbrand also das Schicksal von Westeros entschiede, wäre es zwar immer noch ein hässlicher, aber „sinnvoller“ Tod.)

Allein, dass Martin mit diesen Schwierigkeiten spielt — und damit beweist, dass er sich der Regeln seines Genres und seiner Welt vollauf bewusst ist — ist aber spannend mit anzusehen. Und die Hingabe und Ernsthaftigkeit, mit der er das tut, ist vielleicht sein wahres Geschenk an die Fantasy. Zu Tolkiens Zeiten, in Tolkiens Welt, wäre der Tod eines Ned Stark insbesondere unter solchen Vorzeichen noch undenkbar gewesen. Martin aber jongliert mit den seit Jahrzehnten gefestigten Erwartungshaltungen seiner Leser und leistet für die Fantasy damit etwas Ähnliches wie Battlestar Galactica (wenn wir die letzte Staffel mal eben vergessen können) für die Science Fiction. Er schafft etwas Neues.

Dabei verlangsamt er seine Handlung ins Unendliche, zugunsten einer ungeahnten Detailflut und Tiefe der Charakterzeichnung. Natürlich ist so etwas ein zweischneidiges Schwert — hier wäre Lost vielleicht ein gutes Beispiel: Wenn man jeden Charakter schon auf jede erdenkliche Weise erlebt hat (glücklich, traurig, am Boden zerstört, am Ziel seiner Wünsche, in Vergangenheit, Zukunft und einer anderen Welt) lösen sich die Grenzen zwischen den Figuren und ihren Biographien irgendwann auf. Und wenn die Lektion dabei, wie in vielen zeitgenössischen (Anti-)Heldengeschichten, immer die gleiche zu sein scheint — dass nämlich nur die Harten und Gemeinen überleben, und die Welt ’nichts für Mädchen‘ ist — wird das irgendwann genauso langweilig, wie wenn das Gute immer obsiegt.

Genau hierauf — ob es also ein „Happy End“ geben wird und wie „happy“ genau das dann ausfällt — bin ich sehr gespannt. Bis dahin gilt, dass ich die Geschichte einer höfischen Intrige in einer interessanten Fantasywelt jederzeit der Geschichte einer höfischen Intrige in unserer vorziehen würde. (Ich würde wahrscheinlich sogar die Geschichte eines Mannes, der in einer interessanten Fantasywelt Zigaretten kaufen geht, derselben Geschichte in unserer Welt vorziehen.) Und Martins Welt ist interessant, in ihrer eigenen, rauen Schönheit, und seine Intriganten haben deutlich mehr Tiefe als beispielsweise die in The Tudors, wo ich trotz toller Schauspieler irgendwann vor lauter ununterscheidbaren, machtgierigen Typen in schwarzer Klamotte, die alle das Gleiche taten, sagten und wollten, die Lust verlor.

Solange Martin es schafft, dieses hohe Niveau und diesen Spagat zwischen traditionsgeprägten Erwartungshaltungen auf der einen und ketzerischer Originalität auf der anderen Seite zu halten, und dabei seine Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren, setzt A Song of Ice und Fire sicherlich einen neuen Maßstab, an dem sich Weltenbauer und Geschichtenerzähler noch lange Zeit werden messen lassen müssen.